Scham und Schuld in der Therapie
- Nathalie Hessler

- 21. Okt.
- 2 Min. Lesezeit
Warum diese Gefühle Teil des Heilungswegs sind - und wie du behutsam mit ihnen umgehen kannst

Viele Menschen, die in Therapie kommen, bringen zwei besonders schwere Gefühle mit: Scham und Schuld.
Sie schämen sich für das, was ihnen passiert ist – oder dafür, wie sie heute damit umgehen.
Manche haben das Gefühl, versagt zu haben, nicht genug zu sein, zu spät reagiert zu haben oder „schuld“ am eigenen Leid zu sein.
Doch in der Traumatherapie – und auch in jeder anderen psychotherapeutischen Begleitung – gilt:
Scham und Schuld sind keine Zeichen von Schwäche.
Sie sind häufig Folgen von Verletzungen, die niemand allein tragen sollte.
Woher kommen Scham und Schuldgefühle?
Scham und Schuld entstehen meist dann, wenn Menschen etwas erleben, das sie überfordert oder ihre Grenzen verletzt – und sie keine Möglichkeit haben, das Geschehen einzuordnen.
Gerade in der Kindheit können solche Erfahrungen tiefe Spuren hinterlassen:
Kinder übernehmen Verantwortung, um eine Situation erklärbar zu machen.
Sie denken:
„Wenn ich anders gewesen wäre, wäre das nicht passiert.“
„Ich war wohl selbst schuld“
Dieses Denken schützt kurzfristig – es gibt das Gefühl, wenigstens etwas „kontrollieren“ zu können. Langfristig aber verwandelt es sich in Schuld- und Schamgefühle, die bis ins Erwachsenenalter fortbestehen.
Auch in späteren Lebensphasen – etwa nach Gewalt, Verlust oder Überforderung – können ähnliche Mechanismen wirken. Das Gehirn sucht nach Gründen, um das Unfassbare zu verstehen, und findet sie oft bei sich selbst.
Scham als Schutz – nicht als Fehler
In der Traumatherapie betrachten wir Scham nicht als „falsches“ Gefühl, sondern als Schutzreaktion. Scham hilft, sich zurückzuziehen, unauffällig zu bleiben, sich zu schützen – besonders in Momenten, in denen Nähe oder Sichtbarkeit gefährlich waren.
Das Problem entsteht, wenn dieser Schutz zu einem dauerhaften Begleiter wird.
Dann verhindert Scham, dass Betroffene sich öffnen, Nähe zulassen oder Hilfe annehmen können.
Deshalb ist es so wichtig, Scham nicht zu bekämpfen, sondern mit ihr umzugehen – behutsam, im eigenen Tempo.
Wie Therapie helfen kann
In einer traumasensiblen Therapie steht nicht im Vordergrund, „alte Geschichten aufzudecken“ oder Schuldgefühle zu analysieren.
Es geht darum, Sicherheit zu schaffen – damit die Scham überhaupt Raum bekommt, ohne zu überwältigen.
Das bedeutet:
Du bestimmst das Tempo.
Du entscheidest, was du teilen möchtest.
Du darfst Pausen machen, schweigen, spüren, nachfühlen.
Therapie darf ein Ort sein, an dem du lernst, dass du mit deinen Gefühlen willkommen bist, auch mit denen, die du am liebsten verstecken würdest.
Schritt für Schritt aus der Scham
Verstehen: Scham und Schuld sind normale Reaktionen auf unnormale Erfahrungen.
Entlasten: Du trägst keine Schuld für das, was dir passiert ist.
Annehmen: Du darfst dich mit allem zeigen, was du fühlst – nichts daran ist „zu viel“.
Vertrauen lernen: In einer sicheren Beziehung – z. B. in der Therapie – kann Scham sich langsam lösen.
Jedes kleine Stück Offenheit, jede Träne, jedes Atemholen ist bereits Heilungsarbeit.
Fazit
Scham und Schuld gehören zu den tiefsten menschlichen Gefühlen – und sie brauchen Zeit, Mitgefühl und Sicherheit, um sich zu verändern. In der Therapie geht es nicht darum, sie „wegzumachen“, sondern sie zu verstehen und ihren Platz im eigenen Erleben zu heilen.
Wenn du lernst, mit deiner Scham liebevoll umzugehen, verlierst du nicht deine Stärke – du gewinnst sie zurück.
Du darfst dich zeigen. In deinem Tempo. Und ohne Schuld.



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